Nachdem die Zwillinge Mathilda und Felix durch Zufall entdeckt haben, dass sie mit Hilfe von Museumsstücken in die Vergangenheit reisen können, brechen sie in diesem Buch zu ihrer zweiten, diesmal allerdings geplanten Zeitreise auf, und zwar in das Ägypten der Pyramidenbauer.
Kurz nach ihrer Ankunft dort rettet Felix ein Mädchen vor dem Ertrinken. Zum Dank nimmt die gerettete Merit die Zwillinge mit zu sich nach Hause. Mathilda und Felix leben sich schnell in der kleinen Familie ein. Felix geht mit Pamu, Merits Bruder, tagsüber auf die Baustelle an der Pyramide, wo Pamu als Bildhauer arbeitet. Mathilda versieht mit Merit die typischen Hausarbeiten, wie Einkaufen und Bierbrauen. Die Geschwister lernen so den Alltag der Ägypter des Alten Reiches, ca. 2200 Jahre vor unserer Zeitrechnung, kennen.
Die kleine Dienerfigur, ein Uschebti, mit deren Hilfe sie im Museum ihre Zeitreise gestartet haben, soll auch ihre Rückfahrkarte sein. Doch dafür müssen sie die Figur genau an die Stelle bringen, an die sie zu diesem Zeitpunkt in der Vergangenheit auch gehört – und das ist die Grabpyramide des Pharaos Pepi II., der aber noch quicklebendig auf seinem Thron sitzt.
Doch dann wird ihnen bei einem Besuch im Palast das Uschebti weggenommen und zu allem Überfluss werden die Zwillinge auch noch voneinander getrennt! Wenn sie je wieder in die Gegenwart zurück wollen, müssen sie sich nicht nur wiederfinden, sie müssen das Ushebti auch zurückholen und es zur Bestattung des Pharaos auch noch irgendwie in die bestens gesicherte Grabpyramide bringen. Ein fast unmögliches Vorhaben…
Die Autorin Sabine Wierlemann hält sich nicht mit langen Vorreden auf: Schon auf der ersten Seite des Romans landen die Zwillinge – schwups – im Matsch des Nilufers in der Nähe von Memphis, der unterägyptischen Hauptstadt des Alten Reichs. Von da an beginnt ihr Abenteuer, das sowohl gefährliche Situationen, wie auch viele glückliche Zufälle für sie bereit hält.
Sehr schön ist, dass dabei auch der Gegensatz zwischen unserer heutigen, fast „sorglosen“ Zeit und dem damals recht mühsamen Leben beschrieben wird. So soll Felix ein Huhn fangen und schlachten, damit dieses für das Abendessen zubereitet werden kann und seine Schwester neckt ihn damit, dass er danach endlich einmal wisse, wo die von ihm heißgeliebten Chicken Nuggets eigentlich herkommen. Doch auch Mathilda kommt dabei nicht ungeschoren davon, denn das Huhn muss anschließend auch noch gerupft und ausgenommen werden!
Die Geschwister werden dabei sehr positiv und liebevoll beschrieben. So ist Mathilda die Intelligentere und Planvollere der Beiden, die immer alles wissen und lernen möchte. Felix hingegen ist der spontane, sportliche und zuverlässige Typ, der es mit dem Lernen allerdings nicht immer so genau nimmt. Dass beide aus ihren Fähigkeiten das Beste machen und sich sogar sehr schön ergänzen, ist ein gutes Beispiel für jugendliche Leser. Ein geschickter Schachzug der Autorin ist es noch dazu, zwei Helden zu haben; und das nicht nur, weil damit sowohl Jungen wie Mädchen angesprochen werden, sondern auch deshalb, weil dadurch ganz leicht zwei Erzählstränge aufgebaut werden können, die sich immer wieder abwechseln und so die jungen Leser leichter fesseln können.
Denn – und das wurde noch gar nicht erwähnt – dies ist ein Buch für Kinder und Jugendliche. Das in der »Kollektion OLMS junior« erschienene Buch soll laut Verlagsangaben für Kinder ab 10 Jahren geeignet sein. Etwas schade ist, dass man diese Information nirgendwo auf dem Umschlag oder den ersten Seiten auch finden kann, denn beim Kauf eines Kinderbuchs ist es ja schon entscheidend, für welche Altersgruppe dieses Buch gedacht ist. Auch das Alter der Helden, das ja in der Regel Aufschluss darüber gibt, für welche Zielgruppe ein Buch geschrieben wurde, wird im ganzen Roman nirgendwo erwähnt. Vermutlich hatte die Autorin die Zwillinge in ihrem ersten Roman ausführlicher vorgestellt. Wer aber, wie ich, nur diesen zweiten Band liest, der kann über das genaue Alter der Protagonisten nur Mutmaßungen anstellen.
Sehr erfreulich ist, dass die Autorin auch vor etwas schwierigeren Themen nicht zurückschreckt. So soll die kleine Merit, die altersmäßig erst am Beginn der Pubertät steht, bereits heiraten – und dann auch noch einen viel älteren Mann, den sie gar nicht liebt. Aber da sie keine Eltern mehr haben und die Großmutter schon sehr alt ist, möchte ihr älterer Bruder sie eben gut versorgt wissen, und hat daher diese Ehe arrangiert. Und Merit weiß selbst, dass es vermutlich so am besten ist. Unsere zeitreisenden Zwillinge sind darüber zwar schockiert, wissen aber auch, dass wir unsere heutigen Werte nicht einfach zur Beurteilung einer fremden Kultur heranziehen können. Ein Gedanke, der im Schulunterricht (und die Autorin – selbst Lehrerin – bietet zu dieser Geschichte auch unterrichtsbegleitendes Material an) gerne einmal tiefer besprochen werden sollte, wenngleich das in keiner Weise bedeuten soll, dass wir diese spezielle Praktik in unserer heutigen Zeit gutheißen können. Aber darüber nachzudenken, dass die eigene Kultur nicht das Maß aller Dinge ist, schadet unseren Schülern sicher nicht.
Lobenswert ist das ausführliche Glossar, das die verschiedenen Götter und altägyptischen Ausdrücke erklärt. Allerdings hat sich hier ein Fehler eingeschlichen, denn es wird mehrfach von Pharao Pepi I. und dessen Regierungszeit gesprochen, obwohl es im Roman um Pepi II. geht, was durch die Verwendung seines Thronnamens Neferkare eindeutig ist. Auch auf dem, vom Hamburger Illustrator Christoph Clasen sehr schön gestalteten, Umschlag sieht man auf dem abgebildeten Uschebti ganz klar die Namenskartuschen von Pepi II.
Einige weitere, kleine Ungenauigkeiten – z.B. gab es im alten Ägypten die Musikinstrumente Klarinette und Oboe noch nicht – trüben den Lesegenuss aber ebensowenig, wie manche nicht ganz logischen Passagen, wenn z.B. darauf hingewiesen wird, dass aus Geheimhaltungsgründen nur wenige ausgewählte Künstler in der Grabkammer des Pharaonengrabes arbeiten dürfen, aber Felix als fremder Besucher einfach so dorthin mitgenommen werden kann. Oder wenn am Anfang Mathilda ihrem Bruder erklärt, dass die Ägypter einfache Gewänder aus weißem Leinen trugen, aber mit keinem Wort darauf eingegangen wird, warum dann die Zwillinge in ihrer „modernen“ Kleidung dort nicht auffallen. Aber wer will in einem Zeitreiseroman schon nach Logik suchen…
Leider wird die Geschichte um Merits arrangierte Ehe am Ende nicht mehr aufgenommen. Hier hat die Autorin die Chance vertan, die darin liegende Bitterkeit durch eine kleine Wendung etwas abzumildern – was sie für Merits Bruder Pamu durchaus schafft, der von den Zwillingen vor dem selbst gewählten Tod bewahrt wird.
Insgesamt ein sehr gutes Jugendbuch, das die altägyptische Kultur kindgerecht aufleben lässt. Wie hart die Menschen arbeiten mussten, woran sie glaubten, welche Feste sie feierten und welche ungeschriebenen Regeln es gab, die teilweise völlig von unseren heutigen Werten abweichen, in all das bekommt der Leser einen guten Einblick. Die Idee, Kinder von heute in eine vergangene Epoche reisen und dort Abenteuer erleben zu lassen, macht Geschichte greifbar und erlebbar. Aber das Buch ist nicht einfach nur die Fortsetzung des Geschichtsunterrichts „mit anderen Mitteln“, sondern auch ein spannendes Abenteuer, das man einfach nur so zum Spaß lesen kann. Ganz ohne an Schule zu denken.