Die Zwillinge Tamut und Nefret werden seit dem Tod ihrer Mutter von ihrer Tante Heriset betreut, mit der sie sich aber überhaupt nicht gut verstehen. Bevor ihr Vater zu seiner nächsten Handelsreise aufbricht, verspricht er ihnen, sich nach seiner Rückkehr um eine Lösung zu bemühen. Doch er kehrt von dieser Reise nicht zurück. Heriset kümmert sich immer weniger um die Zwillinge und eines Tages ist sie plötzlich verschwunden und hat sogar das Haus des Vaters verkauft, der angeblich tot sein soll. Wo sollen die beiden Mädchen nun wohnen?
In ihrer Verzweiflung wenden sie sich an die Hathorpriesterin Merit, die sie zunächst bei sich aufnimmt. Kurz darauf übernehmen die Mädchen das Amt der Priesterinnen des heiligen Apis. Ihre Aufgabe ist es nun, den göttlichen Stier, der bereits recht alt ist, zu versorgen und zu pflegen. Insbesondere Tamut hat eine ganz besodere Beziehung zu dem heiligen Tier. Sie erzählt ihm ihre Sorgen und hat stets das Gefühl, er gebe ihr Trost und Zuversicht.
Als Tamut wieder einmal wegen des unaufgeklärten Todes ihres Vaters sehr traurig ist, spricht der im Sterben liegende Stier plötzlich mit ihr. Als Dank für ihre aufopferungsvolle Pflege will er ihr einen Wunsch erfüllen. Sie darf mit ihm ins Totenreich hinübergehen und dort ihren Vater suchen. Mit der Hilfe des Totengottes Osiris könne sie ihn dann vielleicht ins Reich der Lebenden zurückholen. Aber ist es für einen Lebenden überhaupt möglich, ins Totenreich zu gelangen und es auch wieder zu verlassen? Aus Liebe zu ihrem Vater will sich Tamut auf dieses gefährliche Abenteuer einlassen.
Historische Romane über das alte Ägypten gibt es fast wie Sand am Meer. Viele handeln von bekannten Pharaonen, z.B. Tutanchamun, Ramses oder Kleopatra, andere vom Leben der einfachen Ägypter, von ihrer Arbeit und ihrem Glauben. Nur selten ragt aus der Masse ein Buch hervor, das thematisch noch überraschen kann. Rosa Naumann ist aber genau das mit diesem Kinder- und Jugendbuch gelungen.
Die alten Ägypter glaubten, dass der Gott Re in Gestalt der Sonne während des Tages über den Himmel wandere und während der Nacht in einem Boot durch die Unterwelt fahren müsse. Diese Nachtfahrt der Sonnenbarke war gefährlich, und nur, wenn der Sonnengott dabei alle Gefahren überwand, konnte er am nächsten Morgen wieder in den Himmel aufsteigen und den Ägyptern das lebensspendende Licht bringen. Dieser Aspekt des Jenseitsglaubens ist zwar in mehreren Romanen am Rande erwähnt worden, Rosa Naumann macht jedoch – meiner Kenntnis nach erstmals – diese gefährliche Nachtfahrt der Sonnenbarke zum Thema eines Romans, indem sie ihre Heldin an dieser Reise aktiv teilnehmen lässt. Das Mädchen Tamut begleitet also, zusammen mit vielen anderen ägyptischen Göttern, den Sonnengott Re und hilft ihm dabei, die Gefahren der Unterwelt zu meistern.
Durch diesen geschickt gewählten Rahmen gelingt es der Autorin, dem Leser nicht nur die Gefahren der Reise durch die Unterwelt zu schildern, sondern ihm dabei auch die vielgestaltige ägyptische Götterwelt nahezubringen. Dass die Göttin Selket eine nicht ganz unwichtige Rolle dabei spielt, freut uns natürlich besonders! Für die wichtigsten ägyptischen Gottheiten werden sowohl ihre bildliche Darstellung als auch ihre besonderen Fähigkeiten erwähnt – und das eben nicht in Form einer langweiligen Aufzählung, sondern im Rahmen der Romanhandlung. Zusätzlich finden sich am Anfang und am Ende des Buches auch noch zwei schöne Zeichungen, welche diese Götter und ihren ewigen Gegner, den schlangenförmigen Dämon Apophis, darstellen.
Überhaupt ist das in der Reihe „dtv-junior“ erschienene Buch auch formal gelungen. Die bewährte Zusammenarbeit mit dem Illustrator Udo Kruse-Schulz, der auch schon Naumanns ersten Roman »Verschollen in der Pyramide« gestaltet hat, drückt sich auch hier in einer sehr hübschen Umschlaggestaltung sowie in kleinen Zeichnungen zu Beginn jedes Kapitels aus. Das große und klare Schriftbild ist auf die junge Leserschaft ausgerichtet und auch das Ende der Geschichte, wenn die böse Tante ihre Fehler einsieht und bereut, ist pädagogisch klug und kindgerecht.
Besonders erfreulich – weil leider nicht mehr alltäglich – ist es, dass das Buch keinerlei Rechtschreibfehler enthält. Ein kleiner Fehler hat sich allerdings in der ersten Götterzeichnung eingeschlichen, wo der Gott Horus mit „Horns“ bezeichnet wird. Ein Fehler, der vermutlich beim Entziffern der Handschrift des Illustrators entstanden ist und sicher in der zweiten Auflage des Buches verbessert werden wird.
Auch inhaltlich gibt es nur wenig Kritikpunkte. Die Handlung beginnt völlig unvermittelt und ohne jegliche Einführung. Die Story ist ziemlich simpel gestrickt und hat bis zu Tamuts Reise in die Unterwelt kaum Spannungsbögen. Und diese Reise durch die Unterwelt, die immerhin ein Viertel des Buches ausmacht, ist so fantastisch und fernab jeglicher Realität (na klar, denn die Götter vollbringen natürlich jede Menge Wunder), dass man dies nur in der Rubrik „Märchen“ verbuchen kann. Es ist fraglich, ob all das ausreicht, um die Zielgruppe, Leser von 7-10 Jahren, an das Buch zu fesseln; Jugendliche und Erwachsene könnten sich sogar etwas langweilen. Das Buch punktet dafür aber mit dem Drumherum: der liebevollen grafischen Gestaltung und dem informativen Anhang, in dem die Autorin nicht nur Begriffe erläutert und die Götter auflistet sondern auch die historische Vorlage für ihre Geschichte benennt, die 146 v.Chr. tatsächlich so ähnlich belegt ist.
Aufgrund der schwächelnden Geschichte ist das Buch vielleicht nicht für jedes Kind interessant, sondern wohl eher für solche Kinder geeignet, die bereits etwas über das alte Ägypten gelesen haben und sich für dieses Thema interessieren. Diesen Lesern aber gibt es etwas, das man in keinem anderen Buch bisher finden konnte, nämlich einen kindgerechten Einblick in einen ganz speziellen Aspekt der ägyptischen Jenseitsvorstellung: die Reise der Sonenbarke durch die Unterwelt.
Wer ein ägypteninteressiertes Kind zwischen 7 und 10 Jahren zu Hause hat, kann mit diesem Buch keinen Fehler machen.