Amenemhat, erster Hohepriester des Amun im Tempel von Ipet-Isut (Karnak), ist ein ehrgeiziger und gefürchteter Mann. Und er ist überhaupt nicht einverstanden mit der Politik des in seinen Augen viel zu schwachen Pharao Ramses, des neunten Herrschers mit diesem Namen. Er weiß, er selbst wäre ein viel besserer Herrscher, und auch Königin Nefertari, mit der er seit langem ein Verhältnis hat, sähe viel lieber ihn an ihrer Seite, als ihren wahren Ehemann. Amenemhat sieht in ihr jedoch nur eine zunehmend lästige Gespielin, besonders seit er die junge Fremdländerin Debora mit ihrem flammend roten Haaren gesehen hat. Sie muss er besitzen, koste es, was es wolle. Um das zu verhindern, schickt Deboras Vater seine Tochter fort. Nach einigen Irrwegen landet Debora schließlich im Tempel des Ptah, dessen Hohepriester Kahotep ein ehrlicher und großherziger Mann ist – und ein erbitterter Gegner des mächtigen Amunpriesters Amenemhat.
Anke Napp baut klare Charaktere auf. Die schöne und selbstbewusste Debora ist ein junges Mädchen in ihrer Sturm- und Drangzeit. Seit sie den Hohepriester Amenemhat gesehen hat, ist sie fasziniert von ihm. Die rigorose Ablehnung ihres Vaters macht ihr jedoch bewußt, welch schlechten Charakter man dem Hohepriester zuschreibt. Und dennoch ist dieser undurchsichtige Mann ein ständiger Gast in ihren pubertären Träumen.
Amenemhat ist der mächtigste Priester im Staat. Er nimmt sich, was er will, incl. der Königin. Das Volk leidet Hunger, doch er und seine Amunpriester können aus dem Vollen schöpfen.
Der Ptah-Hohepriester Kahotep ist der Gegenentwurf dazu; ein edler Ritter, der Gerechtigkeit predigt und die Armen in seinem Tempel versorgt.
Wären wir in einem Roman von Christian Jacq, wären jetzt nicht nur Gut und Böse klar sondern auch die Handlung vorhersehbar: Debora und Kahotep würden sich verlieben und nach vielen Kämpfen schließlich den bösen Amenemhat besiegen. Der Pharao würde sie auszeichnen und die Welt eine viel gerechtere werden – Happy End im Sonnenuntergang inclusive. Doch Anke Napp hat etwas anderes vor…
Die Stärke des Romans ist die ideenreiche Geschichte, die mit allerlei Intrigen und unerwarteten Wendungen aufwarten kann. Daneben schafft Anke Napp mit viel Einfühlungsvermögen wirklich interessante Charaktere, die vor allem dadurch beeindrucken, dass sie eben keine Schwarzweiß-Zeichnungen sind. Das wird schlagartig klar, als der doch so edle und bis dahin unfehlbare Kahotep in einem Bordell landet und dort einer Liebsdienerin verfällt. Die Autorin zeigt uns Menschen mit all den Grautönen, den Stärken und Schwächen, den Hoffnungen und verpassten Chancen, wie wir sie aus dem richtigen Leben eben auch kennen. Es sind also keine idealisierten sondern glaubhafte Figuren, die den Roman tragen. Dazu kommt, dass die Autorin die Gedanken und Gefühle der Personen sehr gut beschreibt. Es fällt dem Leser dadurch leicht, die Motive und Emotionen der handelnden Figuren zu erkennen.
Leider bleibt die Welt, in der diese Figuren leben, dagegen eher blaß. Ich hatte manches Mal Probleme, mir die Orte plastisch vorzustellen, in denen die jeweilige Szene spielt. Wie es dort aussieht, wie es klingt oder riecht, welche Kleidung die Personen tragen oder woraus der Festschmuck besteht, das wird gar nicht oder nur ansatzweise beschrieben. Hier ist für einen (hoffentlich) weiteren Ägyptenroman Napps noch „Luft nach oben“.
Ansonsten gibt es inhaltlich nur wenig zu kritisieren. An einigen wenigen Stellen rutscht die Geschichte ins Unglaubwürdige ab. Wenn z.B. Amenemhat einen wütenden Mob, der ihm an den Kragen will, nur mit seinem Blick stoppen kann, dann erinnert das an den bereits oben erwähnten Christian Jacq (den ich durchaus schätze) und ist gar nicht so erdverbunden, wie es ihre Handlung sonst ist. Gleiches gilt, wenn sich Debora ein Pferd schnappt, um dann über hunderte von Kilometern dem Heer und ihrem Geliebten hinterherzureisen.
Als historischen Rahmen hat Anke Napp mit dem Niedergang des Neuen Reiches eine sehr interessante Epoche gewählt. Immer wieder streut sie Verweise auf die sogenannte Amarnazeit ein, deren Herrscher Echnaton die gleichen Fehler machte, wie hier Ramses X.: Er vernachlässigte die Außenpolitik und rieb sich innenpolitisch im Kampf gegen die starke Amunpristerschaft auf.
Stutzig machen den Hobbyägyptologen aber zwei Personalien. In den Königslisten wird als letzter Pharao der 20. Dynastie Ramses XI. geführt, in diesem Roman ist aber Ramses X. der letzte. Zweitens trägt die Königin hier den Namen Nefertari, obwohl dies historisch nicht belegt ist und Anke Napp bei der Namenswahl daher eigentlich freie Hand hatte. Wenn man nun zu Beginn der Geschichte von Ramses und Nefertari liest, denkt man zunächst unweigerlich an Ramses II. und seine über alles geliebte Große königliche Gemahlin. Bei einer Autorin, die immerhin in Geschichte promoviert hat, kann man sich kaum vorstellen, dass dies Flüchtigkeitsfehler sind. Was aber genau sie sich dabei gedacht hat, bleibt ihr Geheimnis, denn es findet sich überhaupt kein Begleitmaterial im Buch. Keine Einordnung der Handlung in die heute bekannten Fakten über diese Zeit, kein Register mit den historisch belegten Personen, und mit sieben altägyptischen Begriffen auch nur ein Mini-Glossar. Für einen historischen Roman, insbesondere von einer Autorin mit wissenschaftlichem Hintergrund, finde ich das zu wenig, denn als ein am alten Ägypten interessierter Leser will ich doch auch etwas über die Zeit lernen, in der die Geschichte spielt und will wissen, was daran wahr ist oder wenigstens wahr sein könnte.
Das Wichtigste an einem Buch ist und bleibt aber die Geschichte. Und Anke Napp hat definitiv eine hervorragende Geschichte geschrieben. Der interessante Zeitrahmen, glaubhafte Figuren, eine unerschütterliche Liebe und die wendungsreiche Handlung machen das Buch zu einem fast ungetrübten Lesegenuss. Es ist zu hoffen, dass Anke Napp, deren literarische Interessen breit gestreut sind, irgendwann einen weiteren Roman aus dem alten Ägypten schreibt. Bei dem halbwegs offenen Ende dieser Geschichte könnte ich mir z.B. problemlos eine Fortsetzung vorstellen. Aber welche Epoche Ägyptens sie sich auch aussuchen würde: Das Buch würde auf jeden Fall in meinem Bücherregal landen!