Kulturwissenschaftliche Konzepte in Anwendung auf die Literatur der Ramessidenzeit, SAK Beiheft 14 (Hamburg 2013)
Mit „Textaufgaben“ veröffentlicht Henrike Simon im vierzehnten Beiheft der Studien zur altägyptischen Kultur (BSAK) die überarbeitete und aktualisierte Version ihrer im Jahre 2009 an der Ludwig-Maximilians-Universität München eingereichten Dissertation. Sie unternimmt in dieser als transdisziplinär zu verstehenden Arbeit den Versuch einige Konzepte der Literatur- und Kulturwissenschaft auf ihre ägyptologische Anwendbarkeit zu überprüfen, indem sie vier ausgewählte Schlüsselbegriffe – „Gattung“, „Performanz“, „Autor“ und „Funktion“ – vorstellt und versuchsweise auf die Literatur der 19. und 20. Dynastie anwendet. Dieser Textkorpus, zu dem so wundervolle Erzählungen wie das „Zweibrüdermärchen“ oder die „Erzählung vom verwunschenen Prinzen“, aber auch verschiedene Lehren, wie die des Hori oder des Amunnacht, sowie die bilderreichen Liebeslieder und Harfnerlieder gehören, erschien der Autorin deshalb so untersuchenswert, weil zu dieser Zeit erstmals ein Literaturbegriff, wie wir ihn heute verstehen, zu greifen sei.
Wirklich lobenswert an dieser Untersuchung ist die klare von der Autorin in der Einleitung und dem Grundlagenkapitel formulierte Struktur der Arbeit, an die sie sich penibel hält: Der Hauptteil der Arbeit, das dritte Kapitel mit dem Titel „Theoretische Diskussionen“, gliedert sich stets wie folgt: Der ausgewählte Schlüsselbegriff wird zunächst gemäß seines Gebrauchs in der modernen Literatur- bzw. Kulturwissenschaft vorgestellt, was mitunter äußerst informativ und für jeden Ägyptologen sicher gewinnbringend ist, gerade bei so vielschichtigen Begriffen wie dem der Performanz. Im zweiten Schritt wird dann aufgezeigt auf welche Art dieser Begriff oder dieses Konzept bereits in der ägyptologischen Forschung Anwendung fand (dass diese Begriffe, wie auf Seite 11 behauptet, „im eigenen Fach eher unreflektiert“ gebraucht würden, kann ich allerdings mit Blick auf die Arbeiten zum Beispiel von Assmann, Loprieno oder Morenz nicht bestätigen) bzw. auf welche Art er in der ägyptologischen Forschung angewendet werden kann, also ob das theoretische Konzept beispielsweise modifiziert werden muss, um dann im letzten Schritt exemplarisch auf die Literatur der Ramessidenzeit angewendet zu werden. Dies bringt zwar an einigen Stellen durchaus Probleme mit sich, da einige Begriffe nicht ohne vorherige Definition der anderen Begriffe komplett erfasst werden können, so wird beispielsweise zur Identifikation von Gattungen schon die Kenntnis der Funktion eines Textes verlangt, bringt allerdings auch den Vorteil mit sich, dass der Leser eine äußerst gut strukturierte und somit gut lesbare und nachvollziehbare Arbeit vor sich hat.
Somit beginnt die Autorin auch mit der Diskussion des Gattungsbegriffs, der sie auch den größten Raum zugesteht, um nach eigener Aussage eine Grundlage auch für die Diskussion der anderen Begriffe zu schaffen. Das beinhaltet auch eine Untersuchung ägyptischer Werkbezeichnungen wie „Erziehungslehre“ (sbA.yt mtr.t) oder „Lied“ (Hs.t), die wenig überraschend nur bedingt hilfreich bei der Identifikation von Gattungen sind, aber einige Aussagen über Funktion und Performanz der Texte leisten. Ihre abschließende Einteilung der ramessidischen Literatur in edukative, narrative und lyrische Texte, die die bisherige Einteilung nicht tiefgreifend verändert, beinhaltet denn auch bereits soviel Information über Funktion (ein edukativer Text dient also der Erziehung/Bildung) und Performanz (lyrische Texte zeichnen sich durch eine besondere Aufführungssituation aus) der Texte, dass man möglicherweise fragen muss, ob eine Diskussion der Begriffe Performanz und Funktion nicht besser vor der Diskussion des Gattungsbegriffs sinnvoll gewesen wäre. Nichtsdestotrotz ist die einführende Beschreibung der Begriffe stets sehr detailliert und informativ, der Definitionsvorschlag für die Verwendung der Begriffe in der ägyptologischen Literaturwissenschaft stets äußerst präzis. Die Anwendung auf die Literatur der Ramessidenzeit erfolgt dann auch auf differenzierte Weise und Henrike Simon schreckt auch nicht davor zurück zu sagen, dass sich einige Fragen schlicht nicht sicher beantworten lassen. Der Diskussion der Autorschaft liegt außerdem ein siebenseitiger Exkurs zu den Eigensignaturen und Kolophonen im Neuen Reich bei.
Die Ergebnisse der Untersuchung werden im letzten Kapitel „Schlussbetrachtungen“ nochmal resümiert und zusammenfassend dargestellt. Dem Abkürzungs- und Literaturverzeichnis folgt ein ausführlicher und sinnvoll gegliederter Index und ein Anhang mit einem übersichtlichen, tabellarischen Verzeichnis aller in dieser Untersuchung berücksichtigten Papyri, Ostraka und weiterer Textträger bzw. aller berücksichtigten Texte der ramessidischen Literatur. Die sechs Abbildungen, die am Ende des Buches auf drei Tafeln abgedruckt sind, hätte ich mir lieber, da sie ohnehin fast alle nur schwarz-weiße Strichzeichnungen bzw. die einzigen beiden Fotos nur in Graustufen sind, begleitend im Text gewünscht.
Henrike Simon hat alle von ihr in dieser Arbeit gesteckten Ziele erreicht und allen nachfolgenden Ägyptologen, die sich mit literaturwissenschaftlichen Fragestellungen beschäftigen wollen, ein Buch vorgelegt, das die fachfremden Konzepte zu den Begriffen „Gattung“, „Performanz“, „Autor“ und „Funktion“ vorstellt und Wege zeigt, wie sie in Zukunft in die ägyptologische Diskussion Eingang finden können. Die Anwendung der Begriffe auf die Literatur der Ramessidenzeit leistet denn auch einen wichtigen Beitrag zum Verständnis der überlieferten Texte dieser Zeit. Wie die klassischen Erziehungslehren wohl in keiner Schule des Neuen Reiches, einige Klassiker ägyptischer Literatur in keiner Privatbibliothek eines ägyptischen Beamten fehlen durfte, sollte auch dieses Buch in keiner ägyptologischen Fachbibliothek fehlen. Dem Laien allerdings empfiehlt sich die Lektüre nur bei entsprechender ägyptologischer oder literaturwissenschaftlicher Vorbildung.