Der Streit zwischen Horus und Seth

Als Horus erwachsen geworden war, beschloss er, Anspruch auf den ägyptischen Thron zu erheben. Immerhin war er der legitime Sohn des früheren Herrschers Osiris, der nur durch Seths Machthunger getötet worden war.

Aber sein Onkel Seth saß fest auf seinem Thron und so berief Horus ein Göttertribunal ein, das aus der Götterneunheit (siehe Schöpfungsgeschichten) bestand und dessen Vorsitz der Sonnengott Re innehatte. Das Tribunal sollte ihn als rechtmäßigen Herrscher anerkennen und Seth vom Thron stoßen.

Die Göttin Neith
Die Göttin Neith
Luxor-Tempel
Neues Reich

Das Göttertribunal

Horus brachte sein Anliegen vor und sein Großvater Schu und der Weisheitsgott Thot unterstützten ihn in seinem Vorhaben. Isis freute sich über diese Unterstützung und glaubte ihren Sohn schon sicher auf dem Thron Ägyptens zu sehen. Sie schickte den Nordwind in die Unterwelt, um Osiris die gute Nachricht zu überbringen.

Re spricht sich gegen Horus aus

Aber Re war sich nicht sicher, ob Horus der richtige Herrscher wäre. Er war zwar der Nachfolger seines Vaters Osiris, aber Seths Herrschaft war immerhin durch seine Macht und Stärke berechtigt. Daher schickte das Göttertribunal einen Brief an die Göttin Neith, um sie um Rat in dieser verfahrenden Angelegenheit zu bitten. Neith stellte sich mit der Begründung der Erbfolge auf Horus‘ Seite, schlug aber gleichzeitig vor, Seth durch die beiden Töchter des Re Anat und Astarte zu entschädigen.

Das Gericht war einverstanden, aber Re war da ganz anderer Meinung. Er nannte Horus einen Schwächling, der nicht das Zeug zum König. Daraufhin machte ein unbedeutender Gott sich über Re lustig und dieser zog sich danach gekränkt und traurig zurück. Das Göttertribunal war somit vorerst beendet. Seiner Tochter Hathor gelang es aber, ihren Vater wieder aufzumuntern. Sie zog ihren Rock hoch und Re lachte über sie und erfreute sich an ihrer Schönheit. Er rief die Götterneunheit wieder zusammen.

Seth und Horus tragen ihre Thronansprüche vor

Nun brachten Seth und Horus noch mal ihre Thronansprüche vor. Seth behauptete, der Richtige zu sein, da er so mächtig und groß genug an Kraft wäre, jede Nacht die Apophisschlange zu besiegen, die Re an der Weiterfahrt durch die Unterwelt hindern wollte (→ Der Sonnengott). Die Götterneunheit jubelte ihm wegen dieser großartigen Tat zu und wollten ihn im Amt bestätigen. Doch Thot und Onuris erhoben Einspruch dagegen und es entbrannte ein Streit darüber, wer das Recht dazu hatte, die Königswürde zu übernehmen.

Horus unterstrich noch mal seine Legitimität als rechtmäßiger Nachfolger seines Vaters Osiris. Isis schaltete sich zu Gunsten ihres Sohnes Horus ein, was Seth so sehr erzürnte, dass er drohte, jeden Tag einen Gott zu töten und kein Gericht anzuerkennen, dem Isis angehörte.

Isis wird der Zutritt verwehrt

Deswegen verlegte Re den Gerichtshof auf eine abgelegene Insel und befahl dem Fährmann Nemty, niemanden auf die Insel zu lassen, der Isis auch nur im Entferntesten ähnelte.

Isis‘ List

Isis hatte sich aber in den Kopf gesetzt, unbedingt auf die Insel zu dem Göttertribunal zu gelangen und überlegte sich eine List. Sie verwandelte sich in eine alte gebückte Frau, steckte einen goldenen Ring um den Finger und nahm eine Schüssel Mehl unter den Arm. So bestückt machte sie sich auf zur Fähre.

Sie erzählte dem Fährmann Nemty, er solle sie auf die Insel bringen, auf der ein junger Viehhirte schon seit 5 Tagen nichts mehr zu essen bekommen hatte. Daher wollte sie ihm den Topf mit Mehl überreichen. Doch Nemty hatte Befehle, keine Frau auf die Insel zu fahren und daher schlug er ihren Wunsch vorerst ab.

]Doch Nemty fragte die alte Frau dann schließlich doch noch, was denn sein Lohn für ihn wäre, wenn er sie auf die Insel bringen würde. Ein Brot lehnte er ab, denn es war kein gerechter Lohn für ein so hohes Risiko. Als Isis ihn dem goldenen Ring anbot, siegte die Gier des Fährmanns schließlich doch und er fuhr sie in seinem Boot bis ans andere Ufer.

Die Göttin Isis im Abydos-Tempel
Die Göttin Isis, die für ihre magischen Kräfte und ihre Listigkeit verehrt wurde.
Tempel von Abydos
Neues Reich, 19. Dynastie

Als Isis das Göttertribunal erreichte, saßen sie gerade bei einer Pause zusammen und aßen Brot. Seth erspähte eine Frau aus der Ferne und Isis verwandelte sich schnell in ein wunderschönes junges Mädchen, an der Seth großen Gefallen fand. Keiner außer Seth hatte sie bemerkt und er ging auf das Mädchen zu.

Seth richtet sich selbst

Isis gab sich als Witwe aus. Nachdem ihr Mann gestorben war, hütete ihr Sohn das väterliche Vieh. Doch eines Tages kam ein Fremder in das Haus und bedrohte Mutter und Sohn. Er würde ihnen das gesamte Vieh wegnehmen und aus dem väterlichen Haus vertreiben. Seth war empört über das Verhalten des Fremden und stellte sich auf die Seite des Sohnes.

In diesem Moment verwandelte sich Isis in ein Sperberweibchen und flog zum nächsten Baum, wo sie Seth triumphierend vorwarf sein eigenes Verhalten gegenüber Horus und Osiris verurteilt zu haben. Unter Tränen berichtete Seth Re, was vorgefallen war. Der Sonnengott empfand aber kein großes Mitleid mit ihm, denn er hatte sich durch seine Worte selbst gerichtet.

Des Fährmanns Strafe

Seth wurde wütend und verlangte eine gerechte Strafe für den Fährmann Nemty. Diese fiel denn auch recht drastisch aus: man riss ihm die Unterschenkel raus. Nemty schwor, sich nie wieder vom Gold verleiten zu lassen.

Der Wettkampf

Das Gericht wurde in die westliche Wüste verlegt. Re und der Göttervater Atum äußerten sich kritisch gegenüber der Götterneunheit, denn sie hatten es bisher noch nicht geschafft, ein Urteil zu fällen. Sie würden nur dumm herumsitzen und dabei zusehen, wie die beiden ihr ganzes Leben weiter gegeneinander streiten würden.

Also beschlossen jetzt Re und Atum, Horus die Krone Ägyptens zu überlassen. Das erzürnte Seth natürlich sehr. Er erhob Einspruch dagegen und forderte Horus auf, in einem Wettkampf seine Kraft unter Beweis zu stellen.

Seth schlug vor, dass sich beide in Nilpferde verwandeln und drei Monate unter Wasser bleiben sollen. Wer eher wieder auftauchte, sollte den Anspruch auf den Thron verlieren. Horus war einverstanden. Und so verwandelten sich beide in Nilpferde und tauchten unter.

Szene aus dem Horus-Mythos im Tempel von Edfu
Im Tempel von Edfu befinden sich Szenen aus dem Mythos. An diesem Ort wurde sein Sieg über Seth jedes Jahr gebührend gefeiert. In dieser Szene harpuniert Horus zusammen mit dem König ein Nilpferd, das Seth symbolisiert. Vor Horus kniet seine Mutter Isis, die ihm aufmunternde Worte zuruft und ihn bestärkt, nicht nachzugeben, falls Seth um Gnade flehen sollte.
Die Gesichter wurden wahrscheinlich einige Jahrhunderte später von Christen zerstört.
Tempel von Edfu
Zeit Ptolemaois X. Alexander I. (um 100 v. Chr.)

Isis macht einen Fehler

Nach einer Weile sorgte sich Isis so sehr um ihren Sohn, dass sie eine Harpune anfertigte. Sie ging zu der Stelle, an der die beiden untergetaucht waren, nahm ihre Harpune und warf sie ins Wasser. Unglücklicherweise traf sie ihren Sohn. Horus schrie entsetzt auf und forderte seine Mutter auf, die Harpune wieder von ihm zu entfernen. Erschrocken beschwor sie die Harpune, von ihm abzulassen.

Der zweite Wurf traf dann endlich Seth. Er heulte auf uns bat Isis ebenfalls darum, ihn zu verschonen. Waren beide denn nicht Bruder und Schwester? Isis empfand Mitleid mit ihrem Bruder Seth und entfernte die Harpune.

Horus schlägt seiner Mutter den Kopf ab

Das erzürnte Horus so sehr, dass er aus dem Nil auftauchte und ihr den Kopf abschlug. Er klemmte ihn unter den Arm und verschwand mit ihm ins Gebirge. Isis Leichnam verwandelte sich daraufhin in eine Statue aus Feuerstein und als Re sie so sah, war er voller Zorn und schwor, Horus zu finden und ihn für seine Tat zu bestrafen.

Udjat Auge im Grab des Maya
In anderen Fassungen dieses Mythos, riss Seth Horus das linke Auge heraus.
Grab des Maya
Neues Reich, 18. Dynastie

Das „Auge des Horus“

]Die Götterneunheit schwärmte aus, um sich auf die Suche nach Horus zu machen. Und es war Seth, der den schlafenden Horus in einer Oase fand. Er packte ihn und riss ihm die Augen raus. Seth steckte die beiden Augäpfel ein und vergrub sie später in den Bergen. Sie verwandelten sich in zwei Keime, aus denen Lotusblumen heranwuchsen.

Seth hielt seinen Neffen für tot und verschwieg Re bei seiner Rückkehr, Horus gefunden zu haben. Währenddessen fand die Göttin Hathor den weinenden Horus in den Bergen. Sie benetzte seine leeren Augenhöhlen mit Gazellenmilch und gab ihm durch Zauberkraft sein Augenlicht wieder. Hathor ging zu Re und erzählte ihm von Seths Tat. Isis kehrte bald darauf wieder ins Leben zurück.

Die Entscheidung

Viele weitere Jahre vergingen und die Streitigkeiten hörten nicht auf. Nachdem der Streit zwischen Horus und Seth 80 Jahre gewährt hatte, schlug Thot vor, einen Brief an den Totengott Osiris zu schreiben, damit dieser eine Entscheidung fälle. Natürlich fiel die zugunsten von Horus aus und Osiris empörte sich darüber, dass man seinem Sohn all die Jahre so übel mitgespielt hatte. Wäre er, Osiris, nicht derjenige, der die Götter mit Weizen und Gerste ernährte? Hatte deswegen nicht sein Sohn berechtigten Anspruch auf den Thron?

Re aber behauptete, es gäbe auch Gerste und Weizen ohne ihn. Osiris wiederum unterstrich seine Macht dadurch, dass früher oder später alle in sein Totenreich einkehren müssten. Nachdem Thot diese Worte von Osiris der Götterneunheit und Re vorgelesen hat, stimmten sie ihm zu.

Horus ist der Sieger

Seth hatte sich auf eine Insel zurückgezogen und in seiner Abwesenheit entschieden sie zugunsten von Horus. Seth wurde von Isis gefesselt vor Gericht gebracht und er stimmte aufgrund seiner misslichen Lage zu, dass der Thron Horus gehörte. Die Götter jubelten, weil nun endlich eine Entscheidung getroffen war und ein neuer König auf dem Thron Ägyptens saß. Seth erhielt als Entschädigung von Re einen Platz im Himmel, wo er den Donner hervorrufen und nun alle Welt Furcht vor ihm haben konnte.

Erläuterungen zu „Der Streit zwischen Horus und Seth“

Den Streit zwischen Horus und Seth gibt es in mehreren Abschriften und teilweise auch in unterschiedlichen Fassungen.

In einer anderen Version wurde Seth am Ende in die Wüste verbannt, wodurch der Gegensatz zwischen Osiris als Fruchtbarkeitsgott und Seth als Sinnbild der Dürre und Zerstörung deutlich wurde. In einer weiteren Fassung der Geschichte stahl Seth das linke Auge des Horus, das den Mond verkörperte. Auch hier wurde das Auge, dieses Mal von Thot, wieder geheilt. Durch die Heilung gewann es an Stärke und war als Schutzamulett „Auge des Horus“ bzw. „Udjat-Auge“ sehr populär.

Diese Fassung stammt aus der Zeit Ramses V. und steht auf einem Papyrus geschrieben, der sich heute im Britischen Museum in London befindet.