Ägyptische Religion

Der Grund, warum die alten Ägypter anfingen an Götter zu glauben, ist der gleiche, wie in so vielen anderen Kulturen: Unerklärliches erklärbar machen. Die beruhigende Vorstellung, dass jemand da ist, an den man sich mit seinen Nöten und Sorgen wenden kann und die Hoffnung auf ein besseres Leben – all das führte zu der Entstehung einer Religion.

Die Geburt des Glaubens

rind-el-kab
Die frühe Zeichnung eines Rindes in El-Kab
Prädynastische Zeit – Alte Reich

Die Ureinwohner Ägyptens entwickelten sehr früh einen Bezug zu ihren Tieren. Sie domestizierten schon im 7. Jahrtausend vor Christus ihre Rinder, die ihnen lebensnotwendiges Fleisch und Milch gaben. Daher nehmen Ägyptologen auch an, dass Rinder die ersten Tiere waren, die von den Ägyptern verehrt wurden – eventuell sogar schon 10 000 v. Chr. Der archäologische Beweis hierfür steht bisher aber noch aus.

Erste Könige benannten sich nach Tieren

Die ersten Beweise für einen Tierkult finden sich im 4. Jahrtausend vor Christus. Die Ägypter vergruben Gazellen und Hunde (bzw. Schakale), Rinder und Widder im Wüstensand. Als Zeichen ihrer Verehrung legten sie ihnen Grabbeigaben mit ins Grab. Schminkpaletten in Tiergestalt oder mit tierischen Verzierungen kamen bei Ausgrabungen zum Vorschein. Die Tierverehrung ging sogar so weit, dass sich die ersten Könige nach Tiere benannten: Skorpion, Kobra oder „Schwingenspreißer“ (wahrscheinlich ein Raubvogel).

Die ersten anthropomorphen Götter

Zwischen 3000 – 2800 v. Chr. begann die Vermenschlichung. Kuhköpfe mit menschlichem Antlitz, ein Falke mit menschlichem Arm und letztendlich ein gänzlich menschlicher Gott. Der erste ägyptische Gott in Menschengestalt war Min, dargestellt mit erhobener Geißel und erigiertem Glied.

Amun-Min mit Sesostris I.
Der erste Gott in Menschengestalt war Min. Hier sieht man den Gott Amun-Min mit Sesostris I.
Weiße Kapelle in Karnak
Mittleres Reich, 12. Dynastie
amun-re
Der Gott Amun-Re mit seiner typischen hohen Federkrone. Hier trägt er zusätzlich noch das Widdergehörn mit Sonnenscheibe
Tempel von Deir el-Bahari, Neues Reich, 18. Dynastie

Aus zwei macht eins

Keine andere Religion der Antike hatte einen so komplexen Glauben wie die alten Ägypter. Unbedeutende lokale Gottheiten gewannen auf einmal an Bedeutung und stiegen hinauf in den ägyptischen Pantheon. Dort saßen sie nun zusammen mit anderen Göttern, welche die gleichen Eigenschaften wie sie selbst besaßen. Der Ägypter hatte nun die Qual der Wahl, welchen Gott er denn nun anbeten sollte.

Viele Götter wurden miteinander verbunden

Viele Götter mit ähnlichen Eigenschaften wurden dann einfach miteinander verbunden. Der Gott Re erreichte irgendwann eine so großartige Rolle, dass er als Schöpfer der Welt angesehen wurde und andere Schöpfergötter in ihm „wohnen“ konnten. So wurde aus Re, Atum und Chnum: Re-Atum und Chnum-Re.

Als der Gott Amun, vormals kleine Lokalgottheit von Theben, immer mehr an Macht gewann, stand er irgendwann auf einer Stufe mit dem Sonnengott Re. Um Amuns Bedeutung als neuer Star am Götterhimmel zu unterstreichen, verbanden die Ägypter Amun mit Re – Amun-Re.

Aus der 21. Dynastie ist uns ein Re-Harachte-Ptah-Sokar-Osiris bekannt.
Namensrekord!

Die Verbindung zweier oder mehrerer Götter zu einem einzigen konnte also aus folgenden Gründen geschehen

  • ähnliche Eigenschaften
  • gleiches Aussehen, gleiche Attribute (z.B. eine Feder auf dem Kopf)
  • um einen vormals unbedeutenden Gott in den Rang eines „großen Gottes“ zu hieven

Die Ägypter müssen schon fast eine diebische Freude daran gehabt haben, nach solchen Verbindungen zu suchen. Dies würde zumindest die Vielzahl an Doppelnamen und sogar Mehrfachnamen erklären.

Die Gestalt des Göttlichen

Eine Gottheit hatte in der Religion der Ägypter nicht nur eine einzige Gestalt, sondern gleich mehrere. Die Göttin Hathor sehen wir als Frau mit Kuhkopf, als Frau mit Kuhohren oder komplett als Kuh. Aber sie konnte auch eine völlig andere Gestalt als löwenköpfige Göttin annehmen, um hier nur ein Beispiel zu nennen.

Warum gab es so viele Darstellungsformen?

Aber warum gab es in der ägyptischen Religion so viele unterschiedliche Darstellungsformen? Hathor ist nicht einfach nur „eine Frau mit Kuhkopf“ sondern sie wird als Kuh oder mit Attributen einer Kuh dargestellt, weil sie das sanftmütige Wesen dieses Tieres besitzt. Andererseits wird sie auch als Löwin dargestellt, weil die Ägypter glaubten, sie hätte ebenso das wilde Wesen einer Löwin.

Die Ägypter hatten also keine feste Formel, die besagte ‚der Gott sieht so und so aus‘, sondern eher ‚der Gott hat die und die Eigenschaft‘, also überlegen wir, welche Tiere, Pflanzen oder Gegenstände dazu am besten passen würden und stellen ihn dementsprechend dar.

Der Nilgott Sobek erscheint in der Gestalt eines Krokodiles, der Kriegsgöttin Neith gaben die Ägypter Pfeil- und Bogen in die Hand. Der Göttin Selket, die u.a. vor Skorpionstichen schützen soll, setzten sie einen Skorpion auf dem Kopf, usw.

Die Göttin Isis
Die Ptolemäer setzten der Göttin Isis ihr Symbol, den Thron, auf ihrem Kopfschmuck, der hier aus Sonnenscheibe und Kuhgehörn besteht. So kann sie auf den ersten Blick von der Göttin Hathor unterschieden werden, die auf Darstellungen oft die gleichen Attribute trägt.
Tempel von Dendera
Griechisch-römische Zeit

Wenn die Ägypter das sanftmütige Wesen der Göttin Isis hervorheben wollten, wurde sie wie Hathor als Frau mit Kuhkopf dargestellt. So ist es oft nicht einfach, den dargestellten Gott alleine anhand seines Aussehens zu identifizieren. Auf Gräbern und Tempelwänden finden wir oft den Namen des Gottes in Hieroglyphen. Auf Statuen und Amuletten haben wir leider seltener dieses Glück.

Niemand kannte die wahre Gestalt des Göttlichen

Die Darstellung eines Gottes war übrigens nur der Versuch, das Göttliche in bildlicher Form zu zeigen. Nach dem Glauben der alten Ägypter, kannte kein lebender Mensch die wahre Gestalt des Göttlichen. Nur in einem Traum oder als Verstorbener konnte er in das wahre Antlitz der Götter schauen. Und dies war nach dem Glauben der alten Ägypter ein berauschender Anblick. Ramses II. beschrieb seinen Körper aus Gold, seine Knochen aus Silber und seine Gliedmaßen aus Eisen und setzte sich damit den Göttern gleich.

Ihr Wesen – Gut und Böse

Ohne Götter ging nichts im Land Ägypten. Sie entschieden über Leben und Tod, Licht und Dunkelheit, Ordnung und Chaos. Alles was die alten Ägypter am Himmel und auf der Erde beobachteten, war die Folge und Demonstration einer göttlichen Handlung. Naturphänomene gingen auf das Konto der Götter. Krankheiten waren die Schuld von übellaunigen Gottheiten. Kurzum das Schicksal ihrer Welt lag in den Händen der Götter – bis über den Tod hinaus.

Es gab nicht nur gut und böse

Doch die alten Ägypter hatten kein Schwarz-Weiß-Denken und ihre Religion kannte nicht nur Gut und Böse. Mit wenigen Ausnahmen hatte jeder „freundliche“ Gott auch böse Charakterzüge und umgekehrt. Für die Ägypter war es kein Widerspruch in ihrem Glauben, wenn die Göttin der Liebe, Hathor, in einer mythischen Geschichte auf die Erde niederging und die Menschheit in einem blutigen Gemetzel nahezu dahinraffte. (→ Von der Vernichtung der Menschheit).

Götter mit völlig gegensätzliche Eigenschaften

In der griechischen und römischen Mythologie sind die Eigenschaften der Götter klar definiert. Bei den Griechen z.B. gab es einen Gott der Sonne, der Erde, usw. Bei den Ägyptern gab es viele Erdgötter und noch mehr Götter, die mit dem Sonnenkult verbunden waren. Erschwerend kommt noch hinzu, dass sich ihr Wesen im Laufe der Jahrhunderte änderte. Götter wurden miteinander verbunden, ihre Attribute flossen ineinander über, zusätzlich zu den vielen Eigenschaften, die ein Gott je nach Zeit und Region eh schon gesammelt hat. So entstanden komplexe „Götterungetüme“, mit teilweise völlig gegensätzlichen Eigenschaften, die für unser heutiges Verständnis nur Verwirrung hervorrufen.

Die Namen der Götter

Anders als bei der griechischen Religion, in der die Griechen z.B. ihre Erde nach der Göttin Gaia nannten, hießen die ägyptischen Götter nicht nach ihrer Eigenschaft.

Der Erdgott Geb. Sein Name hiße übersetzt aber nicht Erde. Grab des Paschedu (TT 3), Theben-West Neues Reich, 19. Dynastie
Der Erdgott Geb. Sein Name heißt übersetzt aber nicht Erde
Grab des Paschedu (TT 3), Theben-West
Neues Reich, 19. Dynastie

Die Göttin Nut personifizierte zwar den Himmel aber dieser wird im altägyptischen nicht nach ihr benannt, sondern hieß per. Geb hieß nicht Erde, sondern ta. Dies liegt einfach daran, dass Nut nicht nur die Himmelsgöttin und Geb nicht nur der Erdgott war, sondern dass sie viele andere Eigenschaften besaßen. Andersherum ist Geb nicht der alleinige Erdgott, sondern er teilt sich diese Eigenschaft mit weiteren Göttern (Aker und Tatenen).

Vor dem „Blutschlürfer“ sollte man sich in acht nehmen

Einige Götter heißen wie ihre Tätigkeit. Vor allem in der Unterwelt finden wir Götternamen mit dieser Eigenschaft. Vor dem „Blutschlürfer“ oder dem „Vernichter“ sollte man sich möglichst fernhalten.

Ein Gott hatte nicht nur viele Eigenschaften, sondern konnte auch viele Namen haben, nur wissen wir die meisten davon heute nicht. Denn es war verboten, die geheimen Namen auszusprechen. Ramses IV. beteuert in einem Text „Ich habe nicht den Namen des Tatenen gesagt“, womit wahrscheinlich der geheime Name des Gottes gemeint war.

Ihr Wohnort – Himmel und Unterwelt

Die alten Ägypter glaubten wie so viele andere Völker, dass ihre Götter im Himmel und in der Unterwelt lebten.

Sie konnten aber auch auf die Erde gehen. Dort „lebten“ sie dann in den Kultstatuen ihrer Tempel oder ließen sich in Tieren nieder. Eine besondere Verehrung genoss der Apis-Stier, der in Saus und Braus in seinem eigenen Tempel lebte und von dem die Ägypter glaubten, der Gott Ptah lasse sich in ihm nieder.

Götterdämmerung – Die Zerstörung des Glaubens

Schon in den Hochzeiten der ägyptischen Religion glaubten die Ägypter nicht an ein ewiges Leben ihrer Gottheiten. Antike Texte aus dem Neuen Reich sehen Thot als eine Art Schicksalsgott, der die Lebenszeit eines jeden Menschen und eines jeden Gottes bestimmte. Der Tod erwarte „jeden Gott und jede Göttin“, ist im Spruch 154 des Totenbuches nachzulesen.

Götterdammerung am Tempel von Philae
Im Philae-Tempel sieht man, wie fast überall in Ägypten, die Zerstörungswut von Christen und Reisenden. Nicht zu übersehen ist das Kreuz der Kopten (ägyptische Christen) in der Mitte. Die Göttin Isis links wurde von den Christen ausgemeißelt und Reisende hinterließen ihr Gekritzel in den Mauern des Ortes, in dem die ägyptische Religion am längsten praktiziert wurde.

Alle Götter und Menschen sind verschwunden

Ebenfalls im Totenbuch findet sich ein Dialog zwischen den Göttern Atum und Osiris:

Osiris beklagt, dass er in Millionen von Jahren, wenn die Erde wieder in das ursprüngliche Chaos vor der Schöpfung zurückfallen würde, er allein in der dunklen Finsternis weilen würde. Atum tröstet ihn mit den Worten, dass sie beide überleben würden aber nicht in ihrer göttlichen Gestalt, sondern in Form von Schlangen durch den Ur-Ozean schwimmen würden. Doch alle anderen Götter und Menschen wären verschwunden und daher wäre niemand mehr da, der die beiden erkennen und anbeten könnte.

Die Ägypter konnten zu diesen Zeitpunkt noch nicht ahnen, dass der Untergang ihrer Götter nicht in den von ihnen geglaubten Millionen von Jahren, sondern schon 2000 Jahre später Wirklichkeit werden würde.

Der Aufstieg des Christentums

Die Götterdämmerung begann spätestens mit dem Aufstieg des Christentums und später mit der Verbreitung des Islams.

383 n Chr. befahl der römische Kaiser Theodosius, alle heidnischen Tempel des Römischen Reiches (und Ägypten gehörte seit 30 v. Chr. dazu) zu schließen. Aber es waren noch weitere Erlasse notwendig, um den Ägyptern ihren Glauben auszutreiben. Diese gipfelten in der Zerstörung der heidnischen Bauwerke. Götterbilder wurden ausgemeißelt, Wände neu verputzt, ganze Anlagen mutwillig zerstört oder für andere Zwecke benutzt.

Die Ägypter gaben ihren alten Glauben aber nicht so leicht auf. Noch im Jahr 452 n. Chr. reisten Pilger nach Philae, um die Statue der Göttin Isis nach Süden zu tragen, wo sie die nubischen Götter besuchen sollte. Erst 537 n. Chr. vetrieb Justinian I. die Priester aus dem Tempel der Isis und schloss ihn für immer.

Der Eine und die Vielen

Über unsere heutige Verwirrung bezüglich der ägyptischen Götterwelt könnte ein Zeitreisender aus dem alten Ägypten nur müde lächeln. Für die Ägypter war ihr Götterglauben das Selbstverständlichste auf der Welt. Bei allem, was sie sehen oder fühlen konnten, jedes noch so kleine Ereignis, jede noch so kleine Beobachtung – hinter allem steckte eine göttliche Macht. Das Göttliche wohnte überall.

Tempelgötter
Rechts eine Göttin, die einen Tempel personifiziert. Die beiden dicklichen Götter symbolisieren Kanäle, die zu dem Tempel fließen
Rote Kapelle der Hatschepsut, Karnak
Neues Reich, 18. Dynastie

Und diese göttliche Macht musste irgendwie dargestellt werden, damit sie für jeden greifbar und vorstellbar wird und Namen erhalten, damit man diese Macht auch benennen konnte. Wilde und unberechenbare Kräfte sind im Spiel? Was ist wilder und unberechenbarer als ein Löwe? Fehlt noch ein Name. Sachmet, Mahes oder vielleicht doch lieber Hathor in ihrer Löwengestalt?

Je nachdem, wie es die Situation, der Ort oder die eigene Vorliebe verlangte, suchte man sich neben der Gestalt noch einen göttlichen Namen aus. Der Autor und Ägyptologe Erik Hornung stellte in seinem Buch „Der Eine und die Vielen“ die bahnbrechende These auf, dass die Ägypter eigentlich nur einen Gott verehrten. Und dieser manifestierte sich in vielerlei Gestalten und Namen.

Die ägyptische Religion – Eine Zusammenfassung

  • Das Göttliche wohnte für die Ägypter überall, in allem was sie sehen, fühlen und riechen konnten. Nur nicht im Menschen selbst, dies ging erst nach seinem Tod.
  • Die Benennung und Darstellung von Göttern half den Ägyptern, das Göttliche in Worte zu fassen und bildlich darzustellen.
  • Je nach Begebenheit, Vorliebe und Kultort bekam das Göttliche die dazu passende Gestalt und einen Namen (einige Götter treten in bestimmten Zusammenhängen häufiger auf als andere, z.B. war der Auslöser von Krankheiten meistens die löwenköpfige Sachmet. Manchmal sind Rollen klar vordefiniert, wie bei der Einbalsamierung, wo wir nur den schakalsköpfigen Anubis sehen (Schakale trieben sich oft in der westlichen Wüste in der Nähe der Gräber rum, daher kamen die Ägypter auf die Idee, den Gott der Einbalsamierer schakalköpfig oder als Schakal darzustellen)
  • Manchmal erkennt der Betrachter den dargestellten Gott an seinen Attributen, wie bei Selket, die einen Skorpion auf den Kopf trägt. Oft kann man aber die Götter nur anhand ihrer Namen unterscheiden, die sich in den Hieroglyphentexten befinden.
  • Eine Gottheit konnte sehr viele Eigenschaften besitzen, denn die Ägypter legten traditionelle und ortsabhängige Charakterzüge nie ab, vermischten sie lieber mit neuen Funktionen und Eigenschaften von Göttern, mit denen sie Verbindungen eingingen.
  • Götter waren in den meisten Fällen weder gut noch böse sondern besaßen beiderlei Charakterzüge. Gottheiten konnten sich miteinander verbinden aber auch wieder lösen.